Was ist Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten?
Das Heilpädagogische Voltigieren und Reiten (HPV/R) ist ein Teilbereich des Therapeutischen Reitens.
Das HPV/R ist eine ganzheitlich orientierte pädagogische Maßnahme, bei der das Pferd seine spezifischen Fähigkeiten in den Interaktionsprozess einbringt.
Unter dem Begriff heilpädagogisches Voltigieren / Reiten werden pädagogische, psychologische, psychotherapeutische, rehabilitative und soziointegrative Angebote mit Hilfe des Pferdes bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit verschiedenen Behinderungen oder Störungen zusammengefasst. Dabei steht nicht die reitsportliche Ausbildung, sondern die individuelle Förderung über das Medium Pferd im Vordergrund, d.h. vor allem eine günstige Beeinflussung der Motorik, der Wahrnehmung, des Lernens, des Befindens und des Verhaltens“ (Arbeitsgruppe HPV/R in A. Kröger, 2005, S. 18).
Aus dieser Definition des HPV/R wird deutlich, dass nur grundlegende Kenntnisse im Reiten oder Voltigieren vermittelt werden können. Die individuelle und soziale Entwicklung von verhaltensauffälligen, lern- oder geistig behinderten sowie psychisch kranken Menschen wird günstig beeinflusst und gefördert.
Beim Voltigieren geht das Pferd auf einem Zirkel, es werden Übungen mit verschiedenen Zielsetzungen und Schwerpunkten auf dem ungesattelten Pferderücken in Schritt, Trab und Galopp durchgeführt.
Beim Reiten steht die selbständige Einflussnahme des Reiters auf das Pferd im Vordergrund. Zum HPV/R gehört neben dem eigentlichen Voltigieren und Reiten selbstverständlich immer die Versorgung des Partners Pferd mit dazu.
Indikation und Kontraindikation beim Heilpädagogischen Voltigieren und Reiten
Bevor eine Therapie mit den Klienten durchgeführt wird, muss eine ärztliche Unbedenklichkeitsbescheinigung schriftlich vorliegen.
Indikationen
Es sind körperliche, emotionale, soziale und kognitive Veränderungen zu erwarten dadurch können Störungen und Entwicklungsverzögerungen verbessert werden wie:
- Angeborene und erworbene Entwicklungsstörungen oder –defizite
- Psychosomatische Störungen
- Wahrnehmungsstörungen
- Sozialverhaltensstörungen
- Persönlichkeitsstörungen
- Selbstwertproblematik
- Essstörungen
- Ängste, Phobien, Zwangserkrankungen
Kontraindikationen
Gründe die das HPV/R als kontraindiziert erscheinen lassen sind z.B.
- Allergien, die durch Pferde auftreten können aber auch Staub oder Pollen
- Anfallsleiden
- sehr schwergewichtige Personen (>90 kg)
- unkontrollierte Aggressionen gegenüber Tieren
- akute psychotische Zustände mit nicht hervorsehbarem Verhalten
- Selbst- oder Fremdgefährdung
- Massive Impulskontrollstörungen
- Bei akuter Harninkontinenz während des Tages nur mit entsprechenden Hilfsmitteln.
Durch die speziell ausgebildeten Therapiepferde wird den Teilnehmern der Umgang mit ihren Ängsten und Frustrationen erleichtert. Das Verhältnis zu den Pferden ermöglicht den Aufbau einer von Vertrauen getragenen Beziehung und führt zur Erfahrung eines positiven Selbstwertgefühls und einer angemessenen Selbsteinschätzung. Das Gruppengeschehen und der Umgang mit dem Pferd fördern und verbessern das Sozialverhalten. Die Teilnehmer lernen so besser den Umgang mit Antipathien und Aggressionen sowie ein kooperatives Verhalten.
Personal
Das HPV/R wird durch eine ausgebildete Reittherapeutin für Heilpädagogisches Voltigieren und Reiten beim deutschen Kuratorium für therapeutisches Reiten (Dipl.-Sozialarbeiterin / Dipl. Sozialpädagogin / Reitlehrer Trainer-B / Trainer im Reiten als Gesundheitssport (FN)) durchgeführt.
Feste Konstanten für mindestens ein halbes Jahr sollten das Pferd, der Voltigierpädagoge, die Kinder bzw. Jugendliche (die Gruppe) und der Ort sein. Diese standardisierte trianguläre soziale Lernsituation gewährleistet, dass alle Beteiligten über das Medium Pferd über eine Feedbackschleife voneinander lernen können.
„Zunächst aber steht das Pferd als Medium im Vordergrund. Es dient der/dem
- Befriedigung von Bedürfnissen nach sozialer Nähe und Körperkontakt
- Selbst- und Fremdwahrnehmung und Selbststeuerung
- Ingangsetzen sozial-kongnitiver Lernprozesse
- Erfahrung sozialen, kommunikativen und kooperativen Verhaltens
- Bewegungserfahrung/-dialog.“ (M.Schulz in A. Kröger, Partnerschaftlich miteinander umgehen, 2005 S. 29)
Einzelförderung
Es besteht die Möglichkeit der Einzelförderung für Kinder ab 4 Jahren mit Defiziten z.B. Entwicklungsverzögerungen, psychomotorischen Auffälligkeiten, Kontaktstörungen, ADS, ADHS, starker Selbstunsicherheit anzubieten. Dauer 1 bis 2 Zeitstunden pro Einheit inklusive Vor- und Nachbereitung. Die Zielsetzung wird individuell der Störung gemäß entwickelt. Die Teilnahme an HPG bzw. Schulgesprächen ist möglich eine regelmäßige Teilnahme am Angebot wird vorausgesetzt. Vorgespräche und eine Verlaufsdokumentation sind Inhalt der Therapie.
Gruppenspezifische Fördermöglichkeiten
Bei besonderer Indikation und ausreichender Teilnehmerzahl (max. vier Teilnehmer) besteht die Möglichkeit eines Gruppenangebotes. Hier steht zusätzlich ein Helfer zur Verfügung. Die einzelnen Störungsbilder und ihre besondere Interaktion in der Gruppe nehmen Einfluss auf die Zielsetzungen des Angebotes.
Dauer 2 Zeitstunden inklusive Vor- und Nachbereitung.
Die Teilnahme an HPG bzw. Schulgesprächen ist möglich, eine regelmäßige Teilnahme am Angebot wird vorausgesetzt. Vorgespräche und eine Verlaufsdokumentation sind Inhalt der Therapie.
Die Leistungen können in eine bestehende Hilfe zur Erziehung KJHG §27ff. integriert werden. Außerdem können sie als Einzelangebot gebucht werden.
Zielsetzungen und Wirkungsweisen im individuellen Bereich
- Aufbau von Vertrauen
- Abbau von Ängsten
- Erleben und Differenzieren von Gefühlen
- Harmonisierung der Motorik über sensomotorisches Training
- Schärfen der Wahrnehmungssensibilität durch Aktivieren der sensorischen Integration
- Anheben der allgemeinen Motivationslage
- Aufbau von Selbstwertgefühl
- Erlernen einer realbezogenen (richtigen) Selbsteinschätzung
Zielsetzungen und Wirkungsweisen im sozialen Bereich
- Einbeziehen eines anderen (Pferdes …/ … Gruppenmitglied) in die eigenen Aktivitäten
- Kontaktaufnahmen und Einstellen auf den Partner
- Wecken und Fördern der Kooperationsbereitschaft
- Umgang (Abbau von) mit Aggressionen
- Abbau von Antipathien
- Annehmen und Geben von Hilfen
- Übernahme von Verantwortung
- Anheben der Toleranzschwelle bezüglich eigener Leistungsschwächen bzw. Schwächen des gesamten Gruppengeschehens.
Zielsetzungen im kognitiven Bereich
- Förderung der Konzentrations-, Reaktions- und Merkfähigkeit sowie der koordinativen Fähigkeiten
- Entwicklung der Transferfähigkeit
- Sprachverständnis, Sprechbereitschaft, Sprachfähigkeit, Begriffsbildung
- Entwickeln von Lern- und Leistungsbereitschaft sowie von Durchhaltevermögen
Zielsetzungen und Wirkungsweisen im sensoriell-motorischen Bereich
- Gleichgewichtsbeherrschung
- Förderung der Körperwahrnehmung wie:
- Körperbewusstsein, Körperimagio, Körperschemabegriff
- Regulierung des Muskeltonus
- Verbesserung der Raumlageorientierung
- Trainieren rhytmischer Bewegungsabläufe
- Gesamtkörperkoodiantion
- Wahrnehmung (visuell, auditiv, taktil, olfaktorisch)
(vgl. A. Kröger, 2005, S. 307, W. Kaune, 1993 S. 23ff., J. Birkholz, 1999, S. 91ff)